Eine alte Frau stöhnte, das Gesicht in ihren faltigen Händen versunken, um welche herum eine goldene Kette mit einem Kreuz geschlungen war. "Bitte, bitte, bitte," flüsterte sie, während Tränen ihr Gesicht hinunterflossen. Dieser gebrochene Mensch kniete auf der staubigen Straße. Wir sahen sie bereits am Morgen auf dem Weg zur Wallfahrtsbasilika der Gottesmutter, Panagia Evangelistria, ein imposantes Gebäude aus weißem Marmor. Auch auf unserem Weg zurück, kämpfte sie sich noch den Weg hinauf auf den Hügel und hoffte auf ein Wunder.
Inselhalt
Wir charterten ein Boot in Syros um während unseres Urlaubs von Insel zu Insel zu segeln. Wir legten an Tinos an, um die heilige Kykladeninsel zu besichtigen. Im frühen Morgenlicht lag die rotbraune Insel vor uns und die majestetische Basilika ragte strahlend über dem Hafen empor. Die Neugier, mehr über diesen übernatürlich anmutenden Ort zu erfahren, war bei uns allen beinahe unbändig. Der hektische Monat des Pilgerns lag noch einen Monat entfernt, demnach hatte man auch noch nicht mit solch enormen Menschenmengen zu rechnen. Die alte Dame war jedoch nicht die einzige Person, die den beschwerlichen Weg zur Kirche auf sich nahm.
Wo die Gläubigen in Scharen hereinströmen
Die Insel von Tinos in den Kykladen ist einer der populärsten griechisch-orthodoxen Pilgerorte. Tausende von Gläubigen machen sich jährlich auf die ungemütliche Reise, oft nur noch auf Händen und Knien kriechend, die 800 Meter auf dem verschlissenen roten Teppich vom Hafen zur Kirche entlang. Sie durchqueren den italienisch beeinflussten Eingang, folgen dem unbehaglichen Weg und gelangen über große Marmorstufen hinein zur Kirche. In 1830 fertiggestellt, um den Fund der übernatürlichen Marienikone zu gedenken, zieht sie viele Pilger an. Wie so viele andere heilige Orte in Griechenland, wurde sie auf der Stelle einer frühbyzantinischen Kirche erbaut, die wiederum auf dem historischen Standort eines dem Gott Dionysos gewidmeten Tempels gebaut wurde. Innen liegt die berühmte mit Juwelen geschmückte Ikone der Jungfrau Maria - ein Quell, so sagt man, von Wundern!
Das kunstvolle Interieur funkelt geradezu, hängende Skulpturen aus wertvollen Metallen sollen Wunder bezeugen. Dies sind die sogenannten tamata, was übersetzt ungefähr Votivgabe bedeutet - kleine Gaben, um einen Schwur zu vollziehen. Pilgerer, deren Gebet erhört wurde oder jene, die hierher reisten damit ihr Gebet erhört wird, überreichten sie als ein Geschenk an die Kirche. Jedes einzelne Stück erzählt eine Geschichte warum die Menschen seit jeher an diesen Ort kamen. Geschichten über geheilte Krankheiten, bestätigte Schwangerschaften, Überlebende eines Schiffbruchs, die von Walen gerettet wurden, blinde Männer, die wieder sehen konnten und eine Menge anderer Wunder, erbracht durch die Hilfe der Jungfrau Maria höchstpersönlich.
Inselfreuden
Jedoch hat Tinos mehr als nur Wunder zu bieten. Seine natürliche Schönheit, das Spiel von Schatten und Licht, typisch für die Kykladen, die Einfachheit des Lebens in den beständigen Dörfern, sein künstlerischer Reichtum an Malern, Bildhauern und ihren Arbeiten, und nicht zuletzt die Architektur seiner berühmten Taubenhäuser, sind alle einen Besuch wert. Tinos ist eine Insel für alle, die die ursprüngliche Lebensart der Inselbewohner, sowie die Freuden der griechischen Küche zu schätzen wissen. Auf Tinos besinnt man sich auf das Wesentliche.
Als wir den Anker lichteten und den Hafen verließen um weiter nach Mykonos zu segeln, schauten wir ein letztes Mal zurück auf die schon abgenutzte Straße, welche zu dem Ort der Wunder führt, und sahen, wie die alte Dame beharrlich auf der Suche nach ihrem eigenen war...
Fotos: Wikipedia